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Day-and-Date-Filmstarts (gleichzeitig im Kino und auf DVD/VoD) sind auf dem europäischen Filmmarkt nach wie vor eine Seltenheit. In den USA ergab kürzlich eine Umfrage, dass nur 5 % der Befragten „definitiv“ bereit wären, USD 50 zu zahlen, um einen neuen Film am Tag des Kinostarts zu Hause zu sehen. Beim halben Preis stieg der Anteil auf lediglich 13 %. In Europa ist das System der Verwertungsfenster eine fest etablierte Norm der Branche. Doch die Netflix-Generation und die Streaming-Dienste haben einen tiefgreifenden Wandel der etablierten Praktiken bewirkt, indem sie auf den Kinostart ganz verzichten – daher die Kontroverse um die Netflix-Produktion „Roma“ von Alfonso Cuaron, die Venedig und drei Oscars gewinnen konnte, obwohl der Film nur ganz kurz ins Kino kam, bevor ihn über 130 Millionen Menschen weltweit per Streaming ansehen konnten. Der jüngste Bericht der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle klärt die Lage bei Verwertungsfenstern in Europa mit einer gründlichen Analyse des Systems und seiner wirtschaftlichen und rechtlichen Logik.
In einem einleitenden Kapitel erläutern die Autoren zunächst die verschiedenen Verwertungsfenster. Klassischerweise und in chronologischer Reihenfolge sind dies das Kino, gefolgt von verschiedenen Formen von kostenpflichtigem VoD und physischen Videos, dann Pay-TV und schließlich das frei empfangbare Fernsehen. Die Zeitrahmen sind von Land zu Land unterschiedlich, und die Grundlage für die einzelnen nationalen Systeme ist entweder die gängige Branchenpraxis, Branchenvereinbarungen oder die nationale Gesetzgebung. Die Reihenfolge der Veröffentlichung orientiert sich einfach an der geschätzten Bereitschaft der Verbraucher, für einen früheren Zugang zum Film mehr zu zahlen, daher: Kino – DVD – VoD – Pay-TV – Free-TV.
Im zweiten Kapitel wird kurz auf die gesamteuropäische Gesetzgebung und ihre Auswirkungen auf die Medienfenster eingegangen. Tatsächlich hat der Europarat den Grundstein für die Regelsetzung gelegt, indem er einen Abstand von zwei Jahren zwischen Kinostart und Fernsehausstrahlung bestimmte. Diese Regeln wurden schließlich zugunsten einer größeren Freiheit für die Rechteinhaber abgeschafft. Der wichtigste Rechtstext in Europa – die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) – erwähnt lediglich die Verpflichtung der Mediendiensteanbieter, Filme nicht zu anderen als den mit den Rechteinhabern vereinbarten Zeiten zu übertragen.
Kapitel drei geht auf die Regelungen einzelner Länder zu Verwertungsfenstern ein. Die Autoren untersuchen den Umgang mit Medienfenstern in Österreich, Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, den Niederlanden und Schweden. Nur zwei dieser Länder, Frankreich und Bulgarien, haben spezifische oder allgemeine gesetzliche Bestimmungen zu Verwertungsfenstern eingeführt. Die anderen Länder gewährleisten das Funktionieren des Systems durch Regeln für die Filmförderung. In diesen Ländern ist zu beachten, dass Filme, die mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden, die in den Förderregeln festgelegten Verwertungsfenster einhalten müssen, während für Filme, die keine Mittel erhalten haben, keinerlei Verpflichtungen bestehen.
Kapitel vier befasst sich mit Selbstregulierungsansätzen, bei denen die Akteure selbst die Regeln definieren. In Ländern wie Belgien, Dänemark, Spanien und dem Vereinigten Königreich bilden Branchenvereinbarungen oder einzelfallbezogene vertragliche Verpflichtungen die Grundlage für Verwertungsfenster. In Dänemark beispielsweise definiert eine Vereinbarung zwischen dem Dänischen Filmverband und dem Verband der dänischen Filmverleiher eine Sperrfrist von vier Monaten zwischen Kinostart und DVD/VoD-Veröffentlichung. Das Vereinigte Königreich kommt ohne spezifische Sperrvorschriften aus, und die Veröffentlichungsstrategie eines Films wird tendenziell durch individuelle Verhandlungen geregelt. Trotzdem bleiben Day-and-Date-Starts selten, und in der Praxis scheint ein 16-wöchiges Kinofenster üblich zu sein.
Kapitel fünf befasst sich mit der jüngsten Rechtsprechung zu Verwertungsfenstern und behandelt zwei Gerichtsverfahren, eines in Frankreich (Rechtssache Cinéthèque, 11. Mai 1985) und eines in den Niederlanden (Nederlandse Federatie voor Cinematografie). Im ersten bestätigte der Europäische Gerichtshof das Prinzip der Fenster, auch wenn die Anwendung von Sperrvorschriften Auswirkungen haben könnte, die nach den Binnenmarkt- oder Wettbewerbsregeln der EU verboten sind. Die Tatsache, dass das Verwertungsfenstersystem als förderlich für die Filmproduktion betrachtet werden kann, war für den Gerichtshof wie auch für die Kommission der entscheidende Faktor.
Kapitel sechs schließt den Bericht mit einem Überblick über den Stand der Dinge bei Verwertungsfenstern in Europa ab. Die Autoren schildern die Spannungen bei den großen Filmfestivals und das Ringen um die Zulassung (bzw. den Ausschluss) von Filmen, die von On-Demand-Plattformen produziert werden und auch in erster Linie für diese bestimmt sind. Cannes hat sich für einen restriktiven Ansatz entschieden, während Berlin und Venedig für Netflix-Filme offen geblieben sind und dafür viel Kritik einstecken mussten. Die Zahlen der Informationsstelle zeigen, dass die Kinobesuche 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 2,9 % zurückgingen, während SVoD 45,7 % Wachstum verzeichnete. Klar ist, dass hier zwei sehr unterschiedliche Denkrichtungen am Werk sind: Die einen wollen die Integrität eines Kinostarts und der gesamten Fensterstruktur schützen, während die anderen möchten, dass die Verbreitung von Filmen den technologischen Möglichkeiten für eine unmittelbarere Lieferung folgt, die das Online-Streaming bietet. Wie auch immer die zukünftigen Entwicklungen aussehen mögen – diese neue Publikation bietet eine präzise Momentaufnahme des aktuellen Stands bei Verwertungsfenstern in Europa.